Lütisburg par Scheuchzer en 1750 (graphica-antiqua.ch)
Tagblatt 19 august 2008
Geheimnisvoll steht auf dem Lütisburger Schlosshügel hinter der katholischen Kirche St. Michael ein verlassenes Haus, umgeben von Wald. Kaum lässt der heutige Anblick die Geschichte des Gebäudes ahnen. «Es handelt sich um einen historischen Ort für das gesamte Toggenburg», sagt Ursula Hug, Verwaltungsratspräsidentin der Katholischen Kirchgemeinde Lütisburg. Seit 1970 befindet sich das Haus im Besitz der katholischen Kirche. Vorher wurden während 155 Jahren Lütisburger Kinder darin unterrichtet.
Stammsitz der Grafen
Doch das alte Schulhaus auf dem Schlosshügel diente ursprünglich ganz anderem Zweck. Erbaut wurde es wohl im 13. Jahrhundert durch die Grafen von Toggenburg, als Teil des Lütisburger Schlosses, das erstmals 1214 gemeinsam mit der benachbarten Kirche erwähnt wurde. Auf diese Datierung deuten im Keller des heute noch vorhandenen Gebäudes Mauern sowie zwei Säulen hin. Doch die Entstehung der Burganlage sei mit vielen offenen Fragen verbunden, schreibt Hans Büchler im «Lütisburger Buch». Denn archäologische Grabungsresultate fehlen.
Sicher ist, dass die strategisch äusserst gute Lage dazu diente, den Brückenübergang über Thur und Necker zu beherrschen – und damit den Zugang zum Neckertal und die wichtige Handelsachse von St. Gallen ins Toggenburg. Das Schloss war Stammsitz der Grafen von Toggenburg, die über 13 Generationen von 1044 bis 1436 in der Gegend und zeitweise sogar bis nach Davos herrschten.
Nachdem der letzte Toggenburger Graf, Friedrich VII., kinderlos verstarb, wurde 1468 das Toggenburg und mit ihm Schloss Lütisburg an die Abtei St. Gallen verkauft. Damit verlor das Schloss seine strategische Bedeutung und wurde nunmehr als untergeordneter Verwaltungssitz der Äbte genutzt. Malereien aus der Renaissance im ersten Stock des alten Schulhauses deuten auf das Gebäude als Herrschaftshaus hin. «Lange hatte man angenommen, es handle sich dabei um ein Gesindehaus in der Schlossanlage», so Ursula Hug.
Schloss als Steinbruch
Nach dem Niedergang der Grafen vom Toggenburg war das Lütisburger Schloss zwar noch bewohnt, doch der Zerfall nagte an den Mauern. Abt Bernhard Müller (1594 bis 1630) soll die zerfallenen Mauern wieder aufgerichtet haben, ist dem «Lütisburger Buch» zu entnehmen. Um 1630 wird das Schloss denn auch neben Iberg ob Wattwil, Schwarzenbach und Feldegg in Jonschwil als eine der vier bewohnbaren Burgen des Toggenburgs genannt. Unter Abt Gallus II. (1655 bis 1687) hat sicher eine Renovation stattgefunden – noch heute ziert sein Wappenrelief das alte Schulhaus. Noch im 18. Jahrhundert bestätigen Zeichnungen und Kupferstiche eine intakte Wehranlage des Schlosses. Doch in diese Zeit fällt auch der Tagebucheintrag von Landrat Fridolin Anton Grob von Spilhusen: Der 10,5 x 10,5 Meter grosse Schlossturm mit seiner zwei Meter dicken Mauer habe als Steinbruch für den Bau des Fundaments der neuen Thurbrücke gedient.
1803 ist schliesslich nur noch vom Burgstock die Rede, der anlässlich der Liquidation der Klostergüter als «altes Gebäude» bezeichnet und für lediglich 200 Gulden an die Gemeinde Lütisburg verkauft wurde.
Neuer Anlauf
Hier beginnt die Nutzung des letzten verbliebenen Teils des Lütisburger Schlosses als katholisches Schulhaus. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Gebäude letztmals umgebaut und dem Schulzweck angepasst. «Als die Kinder der Babyboom-Jahre in die Schule eintraten, wurden die Klassen immer grösser», berichtet Ursula Hug aus der Chronik des Lütisburger Schulwesens.
So projektierte die Katholische Schulgemeinde 1965 ein neues Schulhaus. Vier Jahre später verschmolzen die Reformierte und die Katholische Schulgemeinde, und kurz darauf wurde das neue Schulhaus eingeweiht. Die sich auflösende Katholische Schulgemeinde verkaufte das alte Schulhaus der Katholischen Kirchgemeinde. Danach wurde das Gebäude von einer Familie bewohnt. Seither steht es leer. Ein Umbauprojekt, das Pfarreiräume und Wohnungen darin vorsah, scheiterte 1990 an der Finanzierung.
Eine Frage des Geldes
Doch das altehrwürdige Haus dem Zerfall überlassen, will die Kirchgemeinde nicht: «Seit Beginn der aktuellen Amtsdauer Anfang dieses Jahres macht sich der Kirchenverwaltungsrat ernsthafte Gedanken über eine neue Nutzung», so Verwaltungsratspräsidentin Hug.
Doch bevor über mögliche Projekte gesprochen werden kann, muss der Rat eine baugeschichtliche Untersuchung in Auftrag geben – so wünscht es die Denkmalpflege. Dafür muss erstmal Geld gesprochen werden. Ob also künftig wieder Leben im ehemaligen Schloss zu Lütisburg einkehren wird, hängt nicht zuletzt wieder vom Finanziellen ab.
Anzeiger
Zuerst kaufte er das Schloss. Dann kam das Burn-out und die Liebe ging. Walter Aerne und seine Schlossgeschichte.
Als Walter Aerne vor drei Jahren die Lütisburg erwarb, ahnte er nicht, was auf ihn zukommen würde. Sein neues Daheim hätte eine perfekte Gruselfilm-Kulisse abgegeben: Dornen umrankten die Ruine, über 20 Jahre hatte kein Mensch einen Fuss über die Schwelle gesetzt. Sogar auf dem Dach wuchsen Bäume. Es gab mehrere Interessenten für dieses verwahrloste Spukschloss, doch die statischen Probleme schreckten viele ab: Das Haus, das auf einem Felsen über der Thur thront, war auf dem sandigen Untergrund aus Nagelfluh in Schieflage geraten und drohte in den Fluss abzustürzen.
Zimmermann Walter Aerne liess sich nicht abschrecken. Die Lütisburg war genau, was er suchte: Ein baufälliges Haus mit historischem Charme, das er für 155'000 Franken fast zum Bodenpreis erwerben konnte. Ein Ort, an dem er sich verwirklichen und mit seiner Partnerin niederlassen wollte. Auch die Lage am Abhang der Thur faszinierte ihn: Von seinem Balkon aus überblickt er den Zusammenfluss von Necker und Thur, das 1400-Seelen-Dorf Lütisburg, Säntis und Speer.
Der Gemeindepräsidentin von Lütisburg, Imelda Stadler, fiel ein Stein vom Herzen: Endlich ein engagierter junger Mann, der sich um das baufällige Wahrzeichen hinter der Kirche kümmerte. «Walter Aerne ist ein Schaffer, kein eingebildeter Burgherr.»
Es dauerte zwei Wochen, bis Walter Aerne das Dickicht um seine Burg herum gerodet hatte. Ein Baum auf dem Dach hatte seine Wurzeln zwei Stockwerke tief geschlagen und die Tuffsteinmauern beschädigt. Aerne krampfte stundenlang, bis er ihn endlich in die Hecke werfen konnte. Dort liegt die Pflanze nun - und hat frische Triebe gebildet. «Er strotzt immer noch vor Lebenskraft», sagt Walter Aerne. Auch er ist mit Kraft und Ausdauer gesegnet - ein Chrampfer. Der Chef einer Zimmerei mit drei Angestellten in Krinau hat sich auf historische Bauten spezialisiert. In seinem Büchergestell stapeln sich Werke zum Thema «Burgenkunde» und «Leben mit Holz».
Mit riesigem Einsatz, oft bis spät in die Nacht, hat der 34jährige Idealist die Lütisburg zu neuem Leben erweckt. Er sicherte den Hang mit einer Plattform aus Beton, zimmerte hölzerne Rittertore mit massiven Eisenbeschlägen und strich die Fassade. Im Keller, dem ältesten Hausteil, installierte er unter mächtigen Eichenbalken eine offene Feuerstelle. Der Raum kann künftig für Partys gemietet werden. «Hier wurde Geschichte geschrieben», sagt Walter Aerne.
Die Grundmauern sind über 800 Jahre alt. Die Vergangenheit der Burg liegt teilweise im dunkeln und ist kaum erforscht. Bekannt ist, dass sie um 1200 errichtet wurde. Laut der Webseite der Gemeinde diente das Schloss den Grafen von Toggenburg als Hauptsitz. Die Burg auf dem Felssporn, umspült vom Fluss, besass für die Grafen eine strategische Bedeutung. Auch mehrere Äbte sollen in den Gemäuern gewohnt haben. Um 1788 wurde der Turm der Lütisburg abgebrochen, um aus dem Material eine Brücke und die katholische Pfarrkirche St. Michael zu bauen. Darum lässt die heutige Lütisburg kaum mehr vermuten, dass sie früher einmal eine imposante Burganlage war. Von 1815 bis 1970 wurde sie als Schulhaus benutzt; bis 1987 war sie bewohnt. Sanierungsprojekte der Kirchgemeinde scheiterten an den Finanzen. So überliess man das Schloss dem Zerfall.
Jetzt renoviert Walter Aerne die Lütisburg für drei Millionen Franken. Er baut in zwei Stockwerke zwei grosszügige Wohnungen mit Mittelalter-Flair ein, die in einem Jahr bezugsbereit sind. Die eine stattet er mit einer Küche samt offener Feuerstelle aus, in der anderen restauriert er einen Festsaal mit gotischer Holzdecke. Auch eine Wandmalerei ist erhalten. Aerne bringt Fachwerkwände zum Vorschein und pflegt die historische Substanz. Zum Mauern mischt er Mörtel mit Sand und Kalk, wie es im Mittelalter üblich war.
Der Hausherr ist bereits in den Dachstock eingezogen. Ein Tisch aus Ulmenholz, eine moderne Küche und ein ausladendes Sofa: Der Toggenburger umgibt sich mit wenigen, dafür hochwertigen Stücken. Obwohl sein Werk bald vollbracht ist, überkommen ihn gelegentlich Zweifel. Denn Walter Aerne hat vor drei Jahren einen schweren Schicksalsschlag erlitten. Seine Schwester kam bei einem Unfall ums Leben. Sie war ein Jahr jünger und stand ihm sehr nah. Zunächst verdrängte er den Schmerz. Stürzte sich umso mehr in die Arbeit. Tag und Nacht und auch am Wochenende. Kurz darauf ging seine siebenjährige Beziehung auseinander. Nur die gemeinsame Katze blieb bei ihm. Zunehmend ging dem Zimmermann die Energie aus. Er fühlte sich gelähmt, litt unter Konzentrationsschwierigkeiten und Schweissausbrüchen. Er schaffte es nicht einmal mehr, ein Brett zu hobeln. «Da stehst du vor einem Riesenprojekt, solltest 200 Prozent Energie aufbringen. Und magst plötzlich nicht mehr.» Zuvor hatte er stets Kraft für zwei gehabt. «Ich glaubte wirklich, ich sei unverletzlich.» Wenn andere von Burn-out sprachen, dachte er, das seien «faule Sieche». «Ich hätte nie gedacht, dass es mich treffen könnte.»
Die Sinnkrise zwang ihn, sein Projekt ein Jahr aufs Eis zu legen. «In dieser Zeit realisierte ich, dass mein Leben eine falsche Richtung eingeschlagen hatte.» Seither fragt er sich: «Was ist mir wirklich wichtig?» Er will sich neu orientieren, sucht nach einem Weg. In dieser schwierigen Situation hat er beschlossen, brachliegende Interessen auszuloten. Etwas, wozu sich kaum je Gelegenheit bot, seit er das Schloss instand setzte. «Wenn man nur noch ein Ziel sieht, verkrampft man sich.» Auf jeden Fall will er die Lütisburg nun zu Ende renovieren. Er zündet sich eine Zigarette an und öffnet das Fenster. Unten in der Tiefe rauscht die Thur und glitzert türkisblau. «Die Chinesen sagen, das bringe Glück.»
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